Die Geschichte der Chronikhandschriften
Auftragserteilung durch Kurfürst Friedrich III. von Sachsen 1510
Im Jahr 1510 erhielt Georg Spalatin (1484-1545) von dem sächsischen Kurfürsten Friedrich III. (1463–1525), gen. der Weise, den Auftrag, eine Chronik des kurfürstlich-sächsischen Hauses zu schreiben, die den Ursprung der Sachsen, Thüringer und Meißner behandeln, ihre Geschichte bis in die eigene Zeit fortführen und mit der Darstellung des regierenden Kurfürsten enden sollte.
Die Herstellung der Chronikhandschriften 1515–1517
Nach umfangreichen Vorarbeiten wurde in den Jahren
1515–1517 die Reinschrift der Chronik erstellt, die in den drei Bänden der
Landesbibliothek Coburg, Ms. Cas. 9-11 und dem Band des
Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar (= ThHStAW), EGA, Reg. O 21 vorliegt. Damit
ist die Chronik der Sachsen und Thüringer jedoch bei weitem nicht
abgeschlossen. Es wurden lediglich die Teile, die Spalatin 1515 schon
ausgearbeitet hatte und die er bis zu seinem Umzug nach Torgau im
September/Oktober 1516 noch verfasste, sukzessive in Reinschrift umgesetzt und
illustriert. Bis 1517 wurden über 1000 Blätter mit rund 1800 Illustrationen lagenweise
fertiggestellt. Ca. drei Viertel davon wurden auf drei Bände (heute Cas. 9–11)
verteilt, die in den Jahren 1516/1517 mit prächtigen Ledereinbänden versehen
wurden, die übrigen Lagen (heute Reg. O 21) blieben lose liegen.
An keiner Stelle der über 1000 Blätter starken Chronikreinschrift findet sich ein konkreter Hinweis auf die Datierung. Einen Anhaltspunkt bietet lediglich der Weimarer Chronikband Reg. O 21. Dort findet sich auf Blatt 242v als spätestes in der Chronik erwähntes Ereignis die Hochzeit Elisabeths (1502-1557), der ältesten Tochter Landgraf Wilhelms II. von Hessen, mit Herzog Johann dem Jüngeren (1498-1537), dem Sohn Herzog Georgs von Sachsen, am 20. Mai 1516. Dass die Reinschrift anderer Teile der Chronik jedoch schon 1515 begann und die Fertigstellung der Chronikbände sich bis 1517 erstreckte, konnte unter verschiedenen Aspekten abgesichert werden, insbesondere durch die Untersuchung der Wasserzeichen, der Einbände von Cas. 9–11, der Materialien des Weimarer Spalatin-Nachlasses, der Rechnungsbücher des kursächsischen Hofes und der Korrespondenz Spalatins.
Die Struktur der Chronik
Spalatins Chronik folgt einem genealogischen Schema. Die Fürsten des weit zurückreichenden und verzweigten kurfürstlich-sächsischen Hauses erhalten jeweils ein eigenes Kapitel, das in der Regel folgendermaßen aufgebaut ist: In der Überschrift werden Name und Titel des Fürsten genannt. Darunter befindet sich ein mit einer schwarzen Linie gerahmtes Bild, das ihn stehend in Ganzfigur und mit Rüstung zeigt. In der unteren Bildzone ist sein Wappen abgebildet. Darunter wird kurz Auskunft über die Herkunft des Fürsten gegeben. Die jeweils nächste Seite zeigt einen Baum mit gewundenem doppelten Stamm, von dem zwei starke Äste abzweigen. Darauf sitzen der ungerüstete Fürst und seine Ehefrau oder seine Ehefrauen als Halbfiguren in Blütenkelchen mit Wappen, im Stamm an der Astgabelung sitzen die Kinder des Fürstenpaares ebenfalls in einem Blütenkelch. Darunter werden die Ehefrau bzw. Ehefrauen und die Kinder namentlich genannt. Auf der nächsten Seite oder auf den nächsten Seiten werden wichtige Ereignisse aus dem Leben des behandelten Fürsten berichtet und durch Bilder illustriert. Der Umfang dieser so gestalteten Personenkapitel schwankt stark und beträgt beispielsweise bei Kaiser Otto I. weit über hundert Blatt.
Der Inhalt der Chronikbände Cas. 9–11
Die drei Chronikbände enthalten jeweils größere zusammenhängende
Teilabschnitte der Geschichte des kursächsischen Hauses, die jedoch nicht
aneinander anschließen. Keiner der drei Bände bietet den Anfang der Chronik;
dieser findet sich vielmehr im Lagenkonvolut Reg. O 21, Bl. 28–52. Auch die
zeitgenössischen Personen und das Ende der Chronik fehlen. Die Chronik blieb
ein Torso.
Im ersten Band, Cas. 9, werden Widukind und seine
Nachkommen vom 8. bis ins frühe 14. Jahrhundert in einzelnen Kapiteln
abgehandelt, darunter insbesondere Markgraf Konrad der Große (1098–1157) und seine
weitverzweigte Nachkommenschaft.
Der zweite Band, Cas. 10, enthält die Liudolfinger des
10. und 11. Jahrhunderts, insbesondere die vier Ottonenkaiser, d. h. Otto I.
(912–973), Otto II. (955–983), Otto III. (980–1002) und Heinrich II. (wohl
973–1024).
Im dritten Coburger Band, Cas. 11, werden die
Landgrafen von Thüringen vom 11. bis 15. Jahrhundert in lückenloser Folge von
Ludwig dem Bärtigen (gest. wohl 1080) bis Landgraf Wilhelm II., gen. der Reiche
(1371–1425), dargestellt.
Die Sonderstellung des Weimarer Chronikbandes Reg. O 21
Der Weimarer Band nimmt eine Sonderstellung ein, da er als Ganzes weder hinter noch vor einen der drei Coburger Chronikbände gehört. Er besteht vielmehr aus acht disparaten Lagenblöcken, die für ganz unterschiedliche Teile der Chronik vorgesehen waren. Darunter befindet sich zum Beispiel ein Block über die angelsächsischen Herrscher, insbesondere die Könige von Kent, des 5. bis 8. Jahrhunderts, ein Block über die Herzöge von Schlesien von der hl. Hedwig bis ins 14. Jahrhundert und ein Block mit den Landgrafen von Hessen vom 13. bis 16. Jahrhundert, der in den dritten Band, Cas. 11, hätte eingefügt werden sollen. Da die Chronik jedoch nie fertiggestellt wurde, blieben diese Lagenblöcke über 150 Jahre ungebunden liegen und wurden erst 1681 zu dem heutigen Band Reg. O 21 zusammengebunden.
Die Bezeichnungen „Lagenkonvolut“ und „vierter Chronikband“
Da der Weimarer Chronikband Reg. O 21 aus einzelnen Lagenblöcken besteht, ist die Bezeichnung „vierter Chronikband“ für ihn nicht angemessen. Man sollte künftig für ihn nur noch die Bezeichnung „Lagenkonvolut“ gebrauchen. Die Bezeichnung „vierter Chronikband“ für Reg. O 21 ist auch insofern problematisch, als in der Tat ein vierter Chronikband bezeugt ist. Dieser Band, dessen genauer Umfang bislang unbekannt ist, enthielt Darstellungen der beiden ersten sächsischen Kurfürsten Friedrich I., gen. der Streitbare (1370–1428), und Friedrich II., gen. der Sanftmütige (1412–1464), die direkt an den dritten Band, Cas. 11, anschlossen. Der vierte Band entstand jedoch erst später, vermutlich nach 1535, d. h. in der Zeit, in der Spalatin längst Superintendent in Altenburg war, und ist nur in einer Abschrift oder Teilabschrift aus der Zeit um 1585 erhalten (Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 191, 2r–39r).
Die Aufbewahrung der Chronikhandschriften (Cas. 9–11) und des Lagenkonvoluts (Reg. O 21) bis zu Spalatins Tod 1545
Wie aus Spalatins Testament vom 13. Oktober 1535 (ThHStAW, EGA, Reg. O 56, 3v) hervorgeht, bewahrte er zu diesem Zeitpunkt sowohl die dreÿ Cronnicken bucher mit gemelden (Cas. 9-11) als auch die etlich geschrieben Sextern (Reg. O 21) in einer seiner zwei Cronicken laden bei sich zu Hause auf, d. h. an seinem Wohnort in Altenburg, wohin er nach dem Tod Kurfürst Friedrichs III. 1525 umgesiedelt war. Offenbar wollte er sich die Möglichkeit offenhalten, die Arbeit an der Chronik jederzeit fortzusetzen.
Bislang ging man davon aus, dass die Chronikbände bis zu Spalatins Tod am 16. Januar 1545 in seinem Altenburger Haus lagen und erst danach gemäß testamentarischer Verfügung dem sächsischen Kurfürsten als seinem Landesherrn – seit 1532 war dies Johann Friedrich I., gen. der Großmütige – übergeben wurden. In einem Rechnungsbuch von 1540 findet sich jedoch unter den Torgauer Hofausgaben mit Datum vom 28. Mai ein Eintrag, demzufolge Spalatin die beiden im Testament erwähnten Cronicken laden, in denen sich u. a. die drei gebundenen Chronikbände (Cas. 9–11) befanden, bereits in diesem Jahr von Altenburg zu Kurfürst Johann Friedrich I. nach Torgau bringen ließ (ThHStAW, EGA, Reg. Bb 5301, 13r).
Die losen Lagen scheint Spalatin dagegen weiterhin in Altenburg behalten zu haben. Ein Eintrag in einem Rechnungsbuch von 1544 legt jedoch nahe, dass auch sie noch vor Spalatins Tod aus Altenburg weggebracht wurden, allerdings nicht nach Torgau, sondern zu Kurfürst Johann Friedrich nach Weimar (ThHStAW, EGA, Reg. Bb 5321, 159r), wo auch die Akten der Ernestiner seit der Leipziger Teilung von 1485 lagerten.
Die Geschichte des Lagenkonvoluts (Reg. O 21) nach Spalatins Tod bis heute
Die Verzeichnung des Lagenkonvoluts im Findbuch von 1583
Das Lagenkonvolut taucht nach Spalatins Tod erstmals wieder 1583 auf, und zwar im Spalatin-Nachlass des Ernestinischen Gesamtarchivs (EGA) in Weimar. In diesem Jahr erstellte der Inspektor Adam Schönickel im Auftrag Kurfürst Augusts von Sachsen ein Findbuch, in dem unter den Hendel und schrifften Georg Spalatins das Lagenkonvolut, aufgeteilt auf 29 Nummern, verzeichnet ist. Er vergab für das Konvolut den Signaturbuchstaben X.
Der Einband von 1681 und das neue Titelblatt
Im April 1681 erhielten die losen Lagen erstmals einen Einband. Dabei wurde ihnen eine Tabelle der Herzöge von Sachsen, Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen, die Spalatin 1513 selbst geschrieben hatte, vorgebunden (Reg. O 20), vermutlich in der Annahme, die Tabelle und die losen Chroniklagen gehörten zusammen. In Schönickels Findbuch trägt die Tabelle den Signaturbuchstaben W.
Da das Lagenkonvolut kein eigenes Titelblatt besaß, wurde das Titelblatt der Tabelle zum Gesamttitelblatt des neu entstandenen Doppelbandes W/X (= Reg. O 20/21). Dieses Titelblatt wurde jedoch durch ein neues Blatt ersetzt, da es zum Zeitpunkt des Bindens gantz zerfleischet und unleserlich war, wie es in einem Eintrag des Weimarer Archivars Johann Sebastian Müller (1634–1708) in der unteren rechten Ecke des neuen Blattes heißt.
Die Unterbringung des Lagenkonvoluts vom 18. Jahrhundert bis heute
Bis 1733 wurde der Doppelband W/X zusammen mit den übrigen Spalatiniana in Weimar in der ehemaligen Burg Hornstein, dem Standort des Ernestinischen Gesamtarchivs, aufbewahrt, kam dann mit dem Gesamtarchiv in das so genannte Französische Schloss, die heutige Herzogin Anna Amalia Bibliothek, und schließlich 1885 in das neue Archivgebäude am Alexanderplatz, dem heutigen Beethovenplatz, wo er sich auch jetzt noch befindet. Bei der Revision und Neuordnung des Gesamtarchivs unter Carl August Hugo Burkhardt (1830–1910) erhielt der Doppelband die neue Signatur Reg. O 20/21.
Die Geschichte der Chronikbände (Cas. 9–11) nach Spalatins Tod bis heute
Die Chronikbände von Spalatins Tod bis zu ihrer Verbringung nach Jena 1574
Nach der Wittenberger Kapitulation 1547 kamen die drei Chronikbände vermutlich zunächst in die neue Residenzstadt Weimar, dann 1565 unter Herzog Johann Friedrich dem Mittleren von Sachsen-Weimar (1529–1595) in dessen neue Residenz nach Gotha und schließlich 1567 nach der Gothaer Kapitulation zurück nach Weimar an den Hof seines Bruders Herzog Johann Wilhelm I. von Sachsen-Weimar (1530–1573). Nachweisbar sind die drei Chronikbände jedoch erst wieder in der Universitätsbibliothek Jena, wohin sie nach dem Tod Johann Wilhelms I. zusammen mit den Büchern Johann Friedrichs des Mittleren am 30. März 1574 gebracht wurden.
Die Chronikbände in der Bibliothek der Universität Jena von 1574 bis in die 1580er Jahre
Die drei Chronikbände werden in drei Inventaren erwähnt, die im Zuge des Büchertransports nach Jena angefertigt wurden (ThHStAW, Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 7000, 12r; A 7001, 35v–36r; A 7002, 37v–38r), außerdem in einem Inventar mit dem Titel Hertzogk Johans Friedrichs Bücher von 1582, das eine eigene Abteilung innerhalb des Gesamtinventars der Jenaer Universitätsbibliothek bildet und in zwei Ausfertigungen erhalten ist (ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AC I 1, 173r; StA Coburg, LA E 2405, 243r).
1589 erhob Herzog Johann Kasimir von Sachsen-Coburg (1564–1633), der Sohn des gefangenen Herzogs Johann Friedrich des Mittleren, Anspruch auf die Bibliothek seines Vaters, die daraufhin im Oktober 1590 von Jena nach Coburg gebracht wurde. Aus einem Schreiben Johann Kasimirs an die Universität Jena vom 26. Oktober 1590 und einer angefügten Liste geht jedoch hervor, dass die Chronikbände bei dem Transport fehlten (ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AA I 1, 54r und 55r).
Die Chronikbände am Herzogshof in Weimar und die Anfertigung von Abschriften Ende des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert
Der Grund dafür, dass die Chronikbände 1590 nicht mit nach Coburg gingen, ist sehr wahrscheinlich darin zu suchen, dass Herzog Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar (1562–1602), der Sohn Johann Wilhelms I., sie an den herzoglichen Hof nach Weimar ausgeliehen hatte, um sie abschreiben zu lassen. In der Tat existieren seitengetreue Abschriften von den Chronikbänden, die um 1585 im Auftrag Friedrich Wilhelms I. und seiner Mutter Dorothea Susanna angefertigt wurden (FB Gotha, Chart. A 189–191). Dass Herzog Friedrich Wilhelm I. die Chronikbände nach der Herstellung der Abschrift nicht wunschgemäß an Johann Kasimir zurückgab, beweist die zwischen 1650 und 1675 in Weimar oder Gotha hergestellte Zweitabschrift der Chronik (FB Gotha, Chart. A 528–530), die möglicherweise durch Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha (1601–1670) in Auftrag gegeben worden war. Diese Zweitabschrift ist nämlich nicht, wie bislang angenommen wurde, eine Abschrift der Erstabschrift, sondern geht zweifelsfrei direkt auf die Chronikbände Cas. 9–11 zurück.
Die Chronikbände in der Bibliotheca Albertina in Coburg Ende des 17. Jahrhunderts
Erst nach dem Abschluss der Zweitabschrift müssen die drei Chronikbände an den Ort gebracht worden sein, wo sie der Erbfolge nach hingehörten, d. h. nach Coburg, denn Ende des 17. Jahrhunderts sind sie in der Bibliothek Herzog Albrechts von Sachsen-Coburg (1648–1699), der Bibliotheca Albertina, anzutreffen. Ihre Zugehörigkeit zu dieser Bibliothek bezeugen die Exlibris Herzog Albrechts, die in den Vorderspiegel aller drei Chronikbände eingeklebt sind.
Die Chronikbände im Gymnasium Casimirianum in Coburg von 1701 bis Mitte des 19. Jahrhunderts
1701 kam ein großer Teil der Bestände der Bibliotheca Albertina gemäß testamentarischer Verfügung Herzog Albrechts in die Bibliothek des Coburger Gymnasium Casimirianum, darunter auch die drei Chronikbände Cas. 9–11. Im Katalog des Bibliothekars Johann Georg Brückner von 1734 sind sie unter den Handschriften im Folioformat als Nr. 4 aufgeführt (LB Coburg, Ms. Cas. 2, S. 95). Bei der Neuordnung und Neukatalogisierung der Bestände der Bibliotheca Casimiriana durch den Lehrer Ernst Anton Julius Ahrens im Jahr 1856 erhielten die Chronikbände die Signaturen 8791–8793 (LB Coburg, Ms. Cas. 8, 31v).
Die Chronikbände auf der Veste Coburg von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1956
Bald nach der Katalogisierung durch Ahrens wurden die drei Chronikbände als Leihgabe des Gymnasiums an die Kunstsammlungen auf der Veste Coburg gegeben, wo sie die Signaturen Ms. 3–5 erhielten.
Die Chronikbände in der Landesbibliothek Coburg von 1956 bis heute
1956 kamen die Chronikbände in die im Schloss Ehrenburg residierende Landesbibliothek Coburg und erhielten dort im Zuge einer Neukatalogisierung der Handschriften durch Franz Georg Kaltwasser die noch immer gültigen Signaturen Ms. Cas. 9–11.