Hilfe für Leser, die mit frühneuzeitlichen Texten nicht vertraut sind
Liest man zum ersten Mal einen mittelalterlichen oder – wie im Fall der Spalatin-Chronik – einen frühneuzeitlichen Text, stößt man auf eine Sprache, die zwar teilweise recht vertraut, im Vergleich zum heutigen Stand des Deutschen aber dennoch sehr andersartig ist. So fallen sofort die Vielfalt der Schreibweisen für ein und dasselbe Wort ins Auge, die ungewohnt gesetzte Interpunktion, zu der auch Schrägstriche, so genannte Virgeln gehören, und die überraschend häufige Doppelung von Konsonanten. Um diese und andere Charakteristika des Chroniktextes nicht zu überdecken, wurde auf eine vereinheitlichende Angleichung der Transkription an die heutige Sprachstufe verzichtet. Die folgenden Hinweise sollen aber dazu dienen, unerfahrenen Lesern die Lektüre dieses Textes aus dem 16. Jahrhundert zu erleichtern.
Viele Schreibweisen für ein Wort
Es gab bis in die Moderne hinein keine überregional verbindliche Regelung der Schreibweise, wie sie uns heute durch den Duden geläufig ist. Buchstabenfolgen, Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- oder Zusammenschreibung orientierten sich zwar sicher auch an Gewohntem und Konventionellem, insbesondere bei so professionellen Schreibern wie denen der Coburger Spalatin-Chronik, aber auch diese Usancen sind historisch und unterscheiden sich in vielem von den heutigen Regelungen. Die Schreibungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren darüber hinaus jedoch sehr viel stärker als heute an der Lautwiedergabe ausgerichtet, d. h. an der Vermittlung des ursprünglich gesprochenen Wortes durch die Schrift. Daher kann ein Wort ‑ selbst innerhalb ein und desselben Textes – in gewissem Rahmen durchaus unterschiedlich geschrieben werden, wie sich auch dialektale Eigenheiten von Schreibern, Vorlagetexten und Zielpublikum im Schriftbild niederschlagen können. Der Leser muss daher mit zahlreichen Varianten rechnen.
Ungewohnte Schriftbilder
Neben dem Reichtum an verschiedenen Schreibweisen eines Wortes gibt es noch weitere, heute irritierende Besonderheiten im Schriftbild des Chroniktextes. Insbesondere die Tatsache, dass manchen Buchstaben andere Lautwerte zugeordnet werden konnten als heute gewohnt, erschwert modernen Lesern schnell das Verständnis von Wort und Text. Während heute ein ‘i’ immer vokalisch und ein ‘j’ immer konsonantisch gebraucht werden, erscheinen beide Buchstaben im Chroniktext austauschbar und sind je nach Umfeld bald konsonantisch, bald vokalisch besetzt. Andere Lautwerte zeigen sich im Text auch für folgende Buchstaben und Buchstabenkombinationen:
a/o | ‚a’ kann für ‘o’ benutzt werden, z. B. ader statt ‘oder’, umgekehrt steht ‚o’ gelegentlich auch für ‘a’, z. B. in noch für ‘nach’ |
ai/ay/aÿ | werden häufig für ‘ei’ benutzt, z. B. in den Endsilben -kait und -hait oder in Erbtail und Kaÿserlich |
b/p | werden oft alternativ benutzt, so steht Abt neben Apt, parschafft für ‘Barschaft’ |
c/k | können ebenfalls alternativ benutzt werden, z. B. in clar für ‘klar’ (im Sinn von ‘deutlich’ bzw. ‘offenkundig‘) oder in closter für ‘Kloster’ |
d/t | können alternativ benutzt werden: vergolden steht für ‘vergolten’, woldenn für ‘wollten’, behaldenn für ‘behalten’ und ebenso prant für ‘Brand’, gegent für ‘Gegend’. |
e | steht häufig für den ‘a’-Umlaut, z. B. in Stetlen für ‘Städtlein’, der Almechtige für ‘der Allmächtige’ oder in enlich für ‘ähnlich’; es wird aber gelegentlich auch benutzt, um den ‘o’-Umlaut wiederzugeben, z. B. in zwelf für ‘zwölf’ |
f | steht vielfach anstelle des heutigen ‘v’, z. B. Folck (hier im Sinne von ‘Kriegsvolk’, ‘Heerhaufen’) für ‘Volk’ |
g/k/ck | werden vielfach alternativ benutzt, so steht bůrg neben bůrck |
i | steht in unbetonten Silben gelegentlich anstelle von ‘e’ (obingemelt für ‘oben erwähnt’) |
-len | Verkleinerungsform ‘-lein’ |
sl-/sw- | ‘sl’ bzw. ‘sw’ zu Wortbeginn sind auch als ‘schl-’ bzw. ‘schw-’ lesbar, z. B. in slacht oder swester. |
v/u | werden alternativ benutzt, ein ‘v’ kann daher auch als ‘u’ gelesen werden (vnd für ‘und’), ein ‘u’ bzw. ‘ů’ für ‘v’ (vnůerborgen für ‘unverborgen’) |
v/w | können ebenfalls alternativ benutzt werden, z. B. steht Wandeslewben neben Vandeslewbenn |
w | auch als ‘u’ lesbar, z. B. in lewth für ‘Leute’, fewer für ‘Feuer’, rweth für ‘ruhet’ oder Pegaw (‘Pegau’) |
y/ÿ | werden meist für ‘i’ benutzt, z. B. ÿm für ‘ihm’, Eysennach für ‘Eisenach’ |
Darüber hinaus sind im Frühneuhochdeutschen Konsonantenverdoppelungen, insbesondere am Wortende, häufig zu beobachten, z. B. in mangell für ‘Mangel’, Romischenn für ‘römischen’, Lewtolff für ‘Leutolf’ bzw. ‘Liudolf’ oder verlornn für ‘verloren’.
Außerdem werden Diakritika verwendet, also kleine Beizeichen, die über einige Buchstaben wie ‘u’, ‘y’ oder ‘o’ gestellt werden. Sie dienen einerseits zur Unterscheidung eines Buchstabens von einem ähnlichen (wie z. B. bei ‘u’, das häufig zwecks Unterscheidung von ‘n’ mit einem übergestellten Kringel als ‘ů’ dargestellt wird), andererseits handelt es sich aber auch um Vorstufen von Umlautkennzeichen und ähnlichem. Da diese Zeichen in der vorliegenden Transkription jedoch nicht untersucht oder interpretiert, sondern ausschließlich dokumentiert werden, sollte sich der Leser behelfsweise in erster Linie an den Grundbuchstaben orientieren.
Häufig benutzte, unbekannte oder nur schwer erkennbare Wörter
Trotz dieser Hinweise, wie man die frühneuzeitlichen Graphien heutigen Schreibweisen annähern und so einer möglichen Wortbedeutung auf die Spur kommen kann, werden manche Wörter weiterhin fremd, missverständlich oder nur schwer entschlüsselbar bleiben, insbesondere dann, wenn sie neuhochdeutsche Entsprechungen mit andersartiger Bedeutung haben oder mehrdeutig sind. Daher werden im Folgenden einige wenige dieser Wörter, die besonders häufig im Chroniktext vorkommen, mit ihren Bedeutungen aufgeführt. Diese Zusammenstellung dient jedoch nur dem ersten Einstieg; sie kann und soll die Benutzung eines Wörterbuchs nicht ersetzen.
an | Präposition ‘an’, aber auch ‘ohne’ |
bleÿde | Steinschleuder |
důrstikait | Verwegenheit, Mut (mhd. ‘türstic-heit’, vgl. unten turren) |
er | Personalpronomen ‘er’, aber auch ‘eher’ |
flogen, flog | flohen, floh (von ‘fliehen’) |
fraÿd | Freude |
gein | gegen |
ichts | etwas |
in mitler zeit | inzwischen |
nach | Präposition ‘nach’, aber auch ‘noch’ |
turren, torsten, důrsten | wagen |
vmb | um |
vnnd | und |
wider ... nach | weder ... noch |
Interpunktion
Die heutigen Interpunktionszeichen Punkt, Komma, Semikolon, Fragezeichen und Doppelpunkt gliedern unsere Texte nach festen Regeln. Eine solche verbindliche und konsequente Regelung der syntaktischen Strukturen durch Interpunktion gab es in der Frühen Neuzeit nicht. Es wurden jedoch zu diesem Zweck Punkte und Virgeln, d. h. kleine Schrägstriche genutzt, selten auch Fragezeichen, Doppelpunkte und Klammern. Außerdem konnten von Zeilenwechseln, Spatien, also Leerräumen in einer Zeile oder an deren Ende, und kalligraphisch anmutender Großschreibung Signale für die Gliederung von Texten und Sätzen ausgehen. Die Interpunktion wurde also teilweise anders, in jedem Fall aber flexibler gehandhabt und variiert, im Fall der Chronik Georg Spalatins sogar von Band zu Band. So wurden beispielsweise in Ms. Cas. 9 und 10 zusammen etwa 60 Virgeln gesetzt, im Ms. Cas. 11 jedoch annähernd 600, obwohl dieser Band deutlich weniger Text bietet als Ms. Cas. 10. Da die vorliegende Lesehilfe keine Untersuchung der in der Chronik benutzten Zeichen und ihrer Funktionen bieten kann, sei dem unerfahrenen Leser hier nur empfohlen, für die Lektüre die vorhandene Interpunktion zu beachten, sie versuchsweise durch Punkte oder Kommata zu ersetzen und gegebenenfalls im Geiste abhängig von Sinn und Syntax durch weitere Satzzeichen zu ergänzen.
Außerdem sei zum guten Schluss ein simpler Trick verraten, mit dessen Umsetzung man tatsächlich vielen Fragen auf die Spur kommt:
Lesen Sie laut!